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VON ANNIKA BINGMANN  |  20.05.2014 13:50

Klebrige Stäbchen als HIV-Verstärker

Ulmer Forscher weisen erstmals Amyloidfibrillen in menschlicher Samenflüssigkeit nach

Rund 35,3 Millionen Menschen weltweit lebten laut UNAIDS 2012 mit dem Humanen Immundefizienz Virus (HIV) und etwa genauso viele HIV-Infizierte sind bereits an AIDS gestorben. Möglicherweise haben Eiweißbruchstücke, die stäbchenartige Amyloidfibrillen im menschlichen Sperma ausbilden, wesentlich zur Verbreitung der Immunschwächekrankheit über Sexualkontakte beigetragen. Die Ulmer Professoren Frank Kirchhoff und Jan Münch haben die als Semen-Enhancer of Virus Infection (SEVI) bezeichneten Fibrillen vor rund sieben Jahren nicht nur entdeckt, sondern auch ihre Funktion als HIV-Verstärker nachgewiesen: Die klebrigen Stäbchen binden Partikel des AIDS-Erregers und erleichtern ihre Anheftung an Zielzellen. Diese Erkenntnisse hatten die Virologen eher zufällig anhand künstlich hergestellter Peptide aus Samenflüssigkeit erlangt – eigentlich suchten sie nach HIV-Hemmstoffen. Dank einer aufwändigen Methode konnten sie nun erstmals Amyloidfibrillen in natürlichem menschlichen Sperma von gesunden und HIV-infizierten Personen nachweisen. Im entsprechenden Fachbeitrag in Nature Communications schreiben sie: „Wenn es gelingt, die Interaktion von Fibrillen und Virenpartikeln zu stoppen, könnte die sexuelle Übertragung des AIDS-Erregers unterbunden werden.“ Schließlich seien in Gegenwart von SEVI nur einige wenige Erreger nötig, um eine Zelle zu infizieren. Ohne die Fibrillen seien es 1000-fach mehr Virenpartikel.

„Bisher wurden nahezu alle Fibrillen im menschlichen Körper mit Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Diabetes oder systemischen Amyloidosen in Verbindung gebracht. Jetzt konnten wir zeigen, dass derartige Stäbchen sowohl in Spermaproben von gesunden Personen als auch von HIV-Infizierten Männern vorkommen“, sagen Professor Jan Münch und Dr. Shariq Usmani vom Ulmer Institut für Molekulare Virologie. Der Nachweis der HIV-Verstärker war jedoch herausfordernd und langwierig: Bekannte Methoden aus der Alzheimerforschung konnten nicht übernommen werden, da die Eiweißbruchstücke keineswegs im Gewebe vorliegen, sondern frei in der Samenflüssigkeit schwimmen. Es brauchte also ein interdisziplinäres Team aus Virologen, Biochemikern, Reproduktionsmedizinern und Spezialisten für Mikroskopie, um den Klebestäbchen auf die Spur zu kommen. Mit einer Kombination aus Elektronen-, Rasterkraft und Fluoreszenzmikroskopie gelang schließlich der Nachweis in allen untersuchten Spermaproben von gesunden oder HIV-infizierten Spendern. Erstautor Dr. Shariq Usmani steuerte sein Wissen zu Amyloid-spezifischen Fluoreszenzfarbstoffen bei, mit denen die Stäbchen angefärbt werden konnten. Die physiologische Funktion der Fibrillen und ihre genaue Zusammensetzung sind jedoch noch nicht geklärt. „Sie könnten eine Rolle bei der Reproduktion spielen und zum Beispiel die Bewegung von Spermien steuern“, vermutet Jan Münch. Ein genaueres Verständnis sei auch für die mögliche Entwicklung eines Mikrobizids wichtig, das die schädliche Wirkung der Fibrillen unterbinden und so das Risiko einer sexuellen Übertragung reduzieren könnte. Ein solches Präparat hilft vielleicht eines Tages Frauen in Entwicklungsländern, sich gegen Infektionen zu schützen.

Womöglich spielen die in Ulm entdeckten Klebestäbchen im Sperma auch eine Rolle bei anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. Die aktuelle Studie gibt also Antworten und wirft gleichzeitig Fragen auf. Die Anzahl der Amyloidfibrillen in den Spermaproben weicht beispielsweise stark voneinander ab. Sind also Männer mit vielen „Stäbchen“ besonders effektive Überträger von HIV? In weiteren Versuchen wollen die renommierten AIDS-Forscher aus Ulm gemeinsam mit Doktoranden der Internationalen Graduiertenschule für Molekulare Medizin neue Methoden zur Quantifizierung der Fibrillen entwickeln sowie ihre Struktur und Funktion klären. Unterstützt werden sie dabei von Kollegen vor Ort – auch vom Ulmer Zentrum für Peptidpharmazeutika (UPEP) – und in aller Welt. Die aktuelle Studie wurde von der Volkswagen-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert – unter anderem mit Mitteln aus Frank Kirchhoffs Leibniz-Preis. Zudem ist Erstautor Shariq Usmani Mitglied der DFG-Nachwuchsakademie OFFSPring. Die verwendeten Proben stammten aus Ulm und aus den Vereinigten Staaten.