PROF. DR. SUSANNE RÄSSLER |
18.06.2013 11:03
Was machen eigentlich Statistiker?
Erklärungen mithilfe einer hochkarätig besetzten Tagung an der Universität Bamberg und anhand eines fiktiven Beispiels
Conference on Applications of Missing-Data Procedures: Hinter diesem sperrigen Titel verbirgt sich eine Tagung, bei der einige der bedeutendsten Statistiker unserer Zeit referieren werden. Allen voran der meistzitierte Statistiker der Welt, Donald B. Rubin, seit 25 Jahren Professor an der renommierten Harvard University – und Ehrendoktor der Universität Bamberg. Rubin ist Ideengeber und Entwickler zahlreicher weltweit anerkannter Verfahren und Algorithmen zum Umgang mit und zur Ergänzung von fehlenden Daten, dem übergeordneten Thema der Tagung. Rubin wird im Dezember 70 Jahre alt und ist nicht nur Ehrengast, sondern auch Anlass der Zusammenkunft, zu der seine akademische Tochter Prof. Dr. Susanne Rässler, Inhaberin des Lehrstuhls für Statistik und Ökonometrie an der Universität Bamberg, geladen hat. Susanne Rässler ist Expertin für Umfragen und Stichprobenziehungen, Mitglied der Zensus-Kommission und eine von drei Trägern des deutschlandweit einzigen Masterstudiengangs zu diesem Forschungsfeld.
Neben Rubin kann die Organisatorin noch mit vielen weiteren „Hochkarätern“ aufwarten, doch jetzt erst einmal zu den Inhalten: Rässler und ihre „Familie“, wie sie ihre Referenten liebevoll nennt, treffen sich am 19. Juni zwischen 9 und 16 Uhr und am 20. Juni zwischen 10 und 17 Uhr in der Kasernstr. 4 in Bamberg, um sich über fünf Problemfelder innerhalb des statistischen Forschungsgebiets „Umgang mit und Ergänzung von fehlenden Daten“ auszutauschen: Messfehler, kausale Schlussfolgerungen, Anonymisierung von vertraulich zu behandelnden Daten, Umgang mit großen Mengen fehlender Daten sowie Datenfusion. Was zunächst völlig abstrakt und weltfremd klingt, ist die Basis für viele wichtige Erkenntnisse, die unser Leben direkt oder indirekt betreffen.
Was das praktisch bedeutet, zeigt folgendes fiktives Beispiel: Ein frischgebackener Schulleiter möchte sich mit einigen Phänomenen an seiner neuen Schule vertraut machen. Zum Beispiel ist ihm aufgefallen, dass in einigen Klassen mit erhöhtem Ausländeranteil die Leistungen in den Kernfächern Mathematik, Deutsch und Englisch im Vergleich zu anderen homogener zusammengesetzten Klassen derselben Klassenstufe deutlich geringer ist. Zur Ursachenforschung möchte er gerne eine Umfrage machen. Und schon kommen die Statistiker ins Spiel. Ihre Aufgabe ist die Konzeption, Durchführung und Auswertung solcher Umfragen, wobei Durchführung in diesem Fall weniger die Arbeit vor Ort, also beispielsweise das Verteilen von Fragebögen meint, als vielmehr die Methode, mit der sichergestellt wird, dass am Ende der Umfrage auch ein korrekter Datensatz zur Auswertung vorliegt.
Gemeinsam mit unserem Schulleiter würden die Statistiker beispielsweise eine Umfrage für die Eltern konzipieren, in der sie Fragen zur Berufstätigkeit, zu Bildung und Ausbildung, zur Nationalität und zu Familienzusammenhängen, sprich, zu grundlegenden Informationen zum Leben der Schüler stellen und bei auftretenden Problemen wie Folgendem methodisch eingreifen: Gerade bei Fragen, die das Privatleben und die Persönlichkeit betreffen, werden oft aus Gründen wie Scham oder Unsicherheit falsche Angaben gemacht. So wird aus einem Hauptschulabschluss ein Abitur oder aus einem 60-jährigen Vater ein 45-jähriger. Je mehr fehlerhafte Angaben, desto verfälschter der Datensatz.
Datenlücken schließen
Je verfälschter der Datensatz, desto unzuverlässiger das Ergebnis der Umfrage. Statistiker erkennen solche unplausiblen Werte und stellen fest, ob es zufällige oder systematische Fehler sind. Auf diesem Wissen aufbauend können sie die durch die fehlerhaften Angaben entstandenen Datenlücken zu einem kompletten Datensatz ergänzen, so dass die Umfrage möglichst vollständig und mit möglichst korrekten Daten ausgewertet werden kann. Der Umgang mit solchen sogenannten „Messfehlern“ bildet den ersten Teil der Tagung, zu dem unter anderem Prof. Dr. Roderick J.A. Little und Dr. Nathaniel Schenker, der Präsident der Amerikanischen Statistischen Gesellschaft sprechen werden. Roderick J. A. Little ist ein Freund und Partner Rubins, der gemeinsam mit ihm DAS Standardwerk zum Umgang mit fehlenden Daten geschrieben hat.
Schlussfolgerungen ziehen
Das zweite Thema der Tagung, „kausale Schlussfolgerungen“, wozu unter anderem Susanne Rässler referiert, könnte bei unserem Beispiel folgendermaßen aussehen: Neben den Leistungsunterschieden bei bestimmten Klassen interessiert sich der Schulleiter außerdem für die Effizienz bestimmter Lernmethoden, speziell in Bezug auf Gruppenarbeit und Frontalunterricht. Die Statistiker raten ihm zu einem Experiment, in dem er zwei homogene Gruppen bildet, bei denen bis auf das zu untersuchende Element alle Voraussetzungen und Eigenschaften gleich sind (Klassenstufe, Aufgabenstellung, Lernziel etc.). Bei einer anschließenden Klausur, die beide Gruppen parallel schrieben, wurde das Lernziel kontrolliert und die Gruppe „Gruppenarbeit“ erzielte eindeutig bessere Ergebnisse.
Aus diesem Experiment kausale Schlussfolgerungen zu ziehen, also nachweisbar festzulegen, dass das Ergebnis kein Zufall war, ist hier die nächste Aufgabe der Statistiker. Denn aus einem starken Zusammenhang folgt nicht automatisch, dass es auch eine eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehung gibt. Oder auf unser Beispiel bezogen: Die Tatsache, dass Schüler bei der Gruppenarbeit mehr miteinander kommuniziert haben als die Schüler beim Frontalunterricht, heißt noch nicht automatisch, dass eine solche Kommunikation Gruppenarbeit effizienter macht.
Daten anonymisieren
Kommen wir von der Gruppenarbeit zurück zur Umfrage über die Leistungen in den Kernfächern und zu den Angaben, die Persönlichkeit und Privatleben betreffen – und damit zu einem weiteren Problemfeld: Ein Kollege ist sehr interessiert an der Umfrage und bittet den Schulleiter, ihm die Rohdaten, also die ausgefüllten Umfragebögen für eigene Nachforschungen zur Verfügung zu stellen. Einige Angaben, die in der Umfrage abgefragt wurden, sind allerdings vertraulich und nicht zur Weitergabe bestimmt. Würde der Schulleiter allerdings nur die Daten weitergeben, für die er eine ausdrückliche Erlaubnis hat, wäre der Datensatz unvollständig und sein Kollege hätte keine Möglichkeit, mit ihm verlässliche Auswertungen vorzunehmen.
Aber auch hierfür hat die Statistik eine Lösung, wie zum Beispiel Dr. Jörg Drechsler, ehemaliger Doktorand Susanne Rässlers und jetziger Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, zu berichten weiß. Er hat 2009 in seiner Doktorarbeit einen teilsynthetischen Datensatz erzeugt, also nicht die Daten selbst, sondern deren Struktur gespiegelt, womit er eine Anonymisierung der Daten erreicht hat und damit eine Weitergabe von vertraulichen Daten ermöglicht. Deutschlandweit ein Novum, denn bis dato kannte man solche Verfahren nur von Donald B. Rubin ausgehend in den USA. Die neuesten Entwicklungen im Bereich der Datenanonymisierung sind das dritte Thema der Statistik Tagung, zu dem auch Jörg Drechsler sprechen wird.
Daten ergänzen
Beim vierten Thema geht es um den Umgang mit großen Mengen fehlender Daten. Für den Schulleiter wird das zum Beispiel dann relevant, wenn er Synergieeffekte zwischen einzelnen Fächern feststellen, also beispielsweise sehen möchte, ob es zwischen einem musikalischen und einem mathematischen Verständnis Beziehungen gibt und man über die Vermittlung bestimmter Lerninhalte in Musik ein größeres Verständnis bestimmter Lerninhalte in Mathematik erreichen könnte. Die Lösung ist auch hier ein Experiment, allerdings gibt es dabei folgendes Problem, das es statistisch zu lösen gilt: Um diese Fragestellung beantworten zu können, müsste es jeweils eine Schülergruppe geben, die nur Musik- bzw. nur Matheunterricht bekommt, damit sie nur für sich betrachtet werden kann.
Andererseits müssen aber beide Gruppen auch zueinander in Beziehung gesetzt werden, was eigentlich voraussetzen würde, das beide Gruppen auch beide Fächer unterrichtet bekommen. Voraussetzung eins schließt aber Voraussetzung zwei aus, so dass bei beiden Gruppen große Mengen an Daten fehlen, nämlich der Mathematikteil bei den Musikschülern und der Musikteil bei den Mathematikschülern. Über Problemstellungen dieser Art referiert auf der Tagung unter anderem Dr. Florian Meinfelder, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Statistik und Ökonometrie an der Universität Bamberg. Ihm gelang es bereits mehrfach, stabile Algorithmen zu entwickeln, mit denen man solche großen Mengen an fehlenden Daten ergänzen kann.
Datensätze zusammenführen
Das fünfte Tagungsthema hängt eng mit dem vierten zusammen, oder um beim Beispiel zu bleiben: Der Schulleiter stellt fest, dass die üblichen ein oder maximal zwei Schulstunden am Stück zu wenig sind, um die Musik- und Mathematikgruppen aussagekräftig zu testen. Damit wird er gezwungen, das Experiment in verschiedenen Blöcken mit mehreren Musik- und Mathematikgruppen durchzuführen. So entstehen viele Datensätze, die alle unterschiedliche Quellen haben. Spezialist für die Zusammenführung solcher Datensätze ist unter anderem Dr. Christian Aßmann, operativer Leiter und Koordinator der Methodengruppe im Nationalen Bildungspanel, der dort entsprechende Verfahren bereits implementiert hat. Er setzt mit seinem Vortrag den inhaltlichen Schlusspunkt der Tagung, bevor Donald B. Rubin die vorgestellten Ergebnisse und Problemstellungen bewerten und diskutieren wird.