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„Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“, dieser Spruch verwies im tristen DDR-Alltag auf eine bessere Zukunft. Ein Versprechen, das sich niemals einlösen ließ. Es blieb – wie das ganze Sozialismus-Projekt – eine zum Scheitern verurteilte Utopie.
Wie sieht es mit dem Traum von einer besseren Gesellschaft in der einstigen Sowjetunion aus? Welchen Stellenwert hat die Utopie in der postsowjetischen Literatur? Diesen Fragen gehen Slawisten der Universität Jena in einem neuen Forschungsprojekt nach. Gefördert mit rund 190.000 Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) arbeiten Prof. Dr. Andrea Meyer-Fraatz und Dr. Andreas Ohme gemeinsam an dem Projekt „Die Utopie im postutopischen Zeitalter“, das zunächst auf drei Jahre befristet ist.
„In den 1920er Jahren wurde in der Sowjetunion noch von den Verheißungen eines Goldenen Zeitalters gesprochen“, sagt Andrea Meyer-Fraatz. Wenig später, bereits in den 1930er Jahren, sei der Begriff „Utopie“ de facto verboten gewesen. Seine Wiederkehr feierte der Utopie-Gedanke mit dem Einsetzen der Perestroika unter Gorbatschow. Offensichtlich waren Denkverbote obsolet geworden.
Andrea Meyer-Fraatz und Andreas Ohme konzentrieren sich auf fünf Autoren, die gegenwärtig zu den herausragenden Protagonisten der russischen Literatur zählen: Wladimir Sorokin, Tatjana Tolstaja, Wiktor Pelewin, Wladimir Makanin und Eduard Limonow. Andreas Ohme erläutert, dass diese Autorinnen und Autoren unterschiedlich mit dem Utopie-Begriff umgehen. So werde einerseits an den „klassischen“ Begriff der Utopie angeknüpft, andererseits würden Utopien ironisch hinterfragt. „Wir können ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Utopie-Begriff feststellen“, sagt Dr. Ohme.
Häufig verpacken die russischen Autoren Utopien in satirische Texte. Ein Musterbeispiel sei „Der Tag des Opritschniks“ von Wladimir Sorokin, sagt Prof. Meyer-Fraatz. Sorokin entwerfe darin die Utopie eines Staatswesens, das deutlich autokratische Züge trägt: „Das Werk spielt 2027, doch Sorokin entwirft das Bild einer Gesellschaft in vorpetrinischer Zeit.“ Heißt konkret, der Leibwächter (Opritschnik) lebt in einem Russland, das sich von Europa abgeschottet hat. Ähnlich dem Moskowiterreich vor Peter I., wie Andrea Meyer-Fraatz erläutert. Wladimir Sorokin sei deshalb in Russland nicht unumstritten. Die Kreml-nahe Jugendorganisation „Naschi“ warf seine Bücher öffentlichkeitswirksam ins Klo.
Das neue Utopie-Projekt der Slawisten von der Friedrich-Schiller-Universität knüpft gewissermaßen an ein Projekt an, das Mitte der 1980er Jahre von Jenaer Wissenschaftlern in Kooperation mit Kollegen aus Göttingen bearbeitet wurde. Seinerzeit stand das Thema „Utopie“ ebenfalls im Zentrum. Allerdings noch unter völlig anderen Vorzeichen.