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VON ANDREA WEBER-TUCKERMANN  |  23.02.2018 09:08

Entschlüsselung des Huntington Proteins

Vor 25 Jahren wurde die Ursache der Huntington-Krankheit entdeckt. Mutationen auf einem einzigen Gen, dem Huntingtin Gen, führen zu einer fehlerhaften Form des gleichnamigen Proteins. Jetzt haben Forscher mit Hilfe der Kryo-Elektronenmikroskopie, der jüngst mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Methode, die dreidimensionale, molekulare Struktur des gesunden menschlichen Huntingtin-Proteins entschlüsselt. Diese ermöglicht nun dessen funktionelle Analyse. Ein verbessertes Verständnis von Struktur und Funktion des Huntingtin-Proteins könnte in Zukunft zur Entwicklung neuer Behandlungsmöglichkeiten beitragen. Die Arbeit der Forscher vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried und der Universität Ulm wurde jetzt im Fachjournal Nature vorgestellt.

Die Huntington-Krankheit beginnt häufig mit Störungen des Gefühlslebens und ist durch unwillkürliche Muskelbewegungen und dem Verlust geistiger Fähigkeiten charakterisiert. Die neurologische Erkrankung zählt zu den bis heute unheilbaren und zum Tode führenden Erbkrankheiten. Das Protein HTT, auch Huntingtin genannt, spielt die zentrale Rolle bei der Huntington-Krankheit. Das Huntingtin Gen ist die Bauanleitung für das gleichnamige Protein. Seit 25 Jahren ist bekannt, dass Mutationen in diesem Gen die Ursache für die Huntington-Krankheit sind.

Obwohl seit vielen Jahren an der Erkrankung geforscht wird, gibt es immer noch viele Hürden zu überwinden. Jetzt ist es in der Zusammenarbeit von Rubén Fernández-Busnadiego aus der Abteilung „Molekulare Strukturbiologie“ am MPI für Biochemie und Stefan Kochanek, Leiter der Abteilung „Gentherapie“ am Universitätsklinikum Ulm, gelungen, die molekulare, dreidimensionale Struktur des Huntingtin Proteins zu entschlüsseln.

Überwundene Hürde
Schon viele Jahre haben Wissenschaftler wie Stefan Kochanek von der Ulmer Universitätsmedizin an der Produktion und Aufreinigung von Huntingtin gearbeitet. Doch was hat eine detaillierte Analyse des Proteins in den letzten Jahrzehnten verhindert? Fernández-Busnadiego, Experte für Kryo-Elektronenmikroskopie, nennt zwei Hauptgründe: „Die Kryo-Elektronenmikroskopie wurde erst in den letzten Jahren soweit optimiert, um Proteinstrukturen mit fast molekularer Auflösung anzuschauen. Der zweite Grund ist, dass das Huntingtin-Protein in seiner Struktur sehr beweglich ist. Auch dafür haben wir erst jetzt eine Lösung gefunden.“ Bei der Analyse wird das Protein aus unterschiedlichen Perspektiven unter dem Mikroskop aufgenommen. Aus der Vielzahl der entstandenen Bilder kann die dreidimensionale, molekulare Struktur errechnet werden. Dafür muss das Protein immer in der gleichen Form vorliegen. Fernández-Busnadiego erklärt: „Vergleichbar wäre dies mit einer Person, die im Dunkeln fotografiert wird. Bleibt die Person nicht für eine Weile ruhig stehen, wird die Aufnahme verschwommen.“

Um ein scharfes Bild zu erhalten, haben die Forscher um Kochanek nach weiteren Proteinen gesucht, die mit Huntingtin in Verbindung stehen und es stabilisieren. „Ein Protein, dass Huntingtin für die Kryo-Elektronenmikroskopie stabilisiert ist HAP40. So konnten wir, gemittelt über viele Bilder, die dreidimensionale Struktur ableiten“, so Kochanek. „Bleiben wir in der Analogie vom Foto im Dunkeln, dann wirkt das Protein wie ein Stuhl für die fotografierte Person. Darauf sitzend, bewegt sich die Person viel weniger und das Bild wird bei gleicher Belichtungszeit viel schärfer“, ergänzt Fernández-Busnadiego.

Wozu wird die dreidimensionale Struktur von Huntingtin benötigt?
„Wir wissen zwar seit einer Weile, dass die Mutation des Huntingtin-Gens schlimme Folgen hat, doch ist bis heute nur relativ wenig über die Funktion und die Aufgaben des gesunden Proteins bekannt“, erklärt Kochanek. Proteine sind die molekularen Maschinen der Zelle. Um ihre vielseitigen Aufgaben zu erfüllen, haben diese eine bestimmte dreidimensionale Struktur, ähnlich wie ein bestimmtes Bauteil in einer Maschine. „Da wir jetzt den exakten Aufbau des Bauteils Huntingtin kennen, können wir in weiteren Studien untersuchen, welche Bereiche von Huntingtin besonders wichtig sind und wie andere Protein mit Huntingtin funktionell zusammenarbeiten. Auf diese Weise könnten Strukturen entschlüsselt werden, an denen bestimmte Wirkstoffe therapeutisch angreifen.“

In der Erforschung der Huntington-Krankheit gibt es derzeit viel Bewegung. Große Hoffnung richtet sich derzeit auf eine ‚Stummschaltung‘ des Huntingtin Gens mit sogenannten Antisense-Oligonukleotiden (ASO) zur Behandlung der Huntington-Krankheit. Diese kleinen Moleküle vermindern die Bildung des Huntingtin Proteins in den Zellen. Dabei kann das Medikament nicht zwischen dem normalen und dem krankhaft veränderten Huntingtin-Protein unterscheiden. Auch aus diesem Grund ist es wichtig, mehr über die Funktion des gesunden Huntingtin Proteins zu lernen. „Die entschlüsselte Struktur wird uns einen großen Schritt voran bringen“, schaut Kochanek in die Zukunft.

Kommentar vom Kliniker
Bernhard Landwehrmeyer ist Leiter der Huntington Ambulanz der Abteilung Neurologie am Universitätsklinikum Ulm (Rehabilitations- und Universitätskliniken Ulm/RKU) und Leiter der weltgrößten internationalen Kohortenstudie zur Huntington-Krankheit (mit mehr als 16.000 Teilnehmern):
„Die Aufklärung der Struktur von Huntingtin ist ein gewaltiger Schritt voran für die vielen Familien, die auf eine wirksame Behandlung der Huntington Krankheit hoffen. Die Krankheit ist zum Teil Folge neuer Eigenschaften, die die krankhaft veränderten Huntingtin-Genprodukte durch die Huntington-Mutation erwerben, zum Teil aber auch eine Folge einer Beeinträchtigung der normalen Funktion von Huntingtin. Jetzt – mit der Kenntnis der Struktur von Huntingtin – können viel rascher und gezielter Fragen zur normalen Funktion von Huntingtin geklärt werden und passgenaue Wirkstoffe entwickelt werden, die die normale Funktion fördern.“

„Die Antisense-Oligonukeotid (ASO)-Behandlungsversuche werden bisher erst an wenigen Kliniken durchgeführt; die Neurologische Universitätsklinik Ulm leitet die Medikamentenprüfung für Deutschland. Einige der zur Zeit geprüften ASOs senken sowohl die Bildung des normalen als auch die des krankhaft veränderten Huntingtin Proteins, andere ASOs streben an, in erster Linie das veränderte Huntingtin zu senken. Zurzeit ist ungeklärt, ob eine teilweise Hemmung der Bildung des normalen Huntingtin Eiweißes Nachteile mit sich bringt und ohne unerwünschte Wirkungen vertragen wird. Auch aus diesem Grund ist es wichtig, mehr über die normale Funktion des Huntingtin Proteins zu lernen. Hierzu wird die jetzt im Fachjournal Nature veröffentlichte Untersuchung einen wichtigen Beitrag leisten.“

Über Rubén Fernández-Busnadiego
Rubén Fernández-Busnadiego studierte Physik an der Universidad Complutense de Madrid in Spanien. Nachdem er 2010 an der chemischen Fakultät der Technischen Universität in München promovierte, arbeitete er im Rahmen eines zweijährigen PostDoc Aufenthalts an der Yale University School of Medicine in New Haven, CT, USA. Seit 2013 ist er Projektgruppenleiter in der Abteilung Molekulare Strukturbiologie von Wolfgang Baumeister. Fernández-Busnadiego und sein Team erforschen die strukturelle Grundlage toxischer Proteinablagerungen bei neurodegenerativen Erkrankungen. Mithilfe neuartiger Mikroskopietechniken werden ultrahohe Auflösungen erreicht. Fernández-Busnadiego wurde 2017 mit dem FEBS Anniversary Prize ausgezeichnet. https://www.biochem.mpg.de/en/Ruben-CV

Über Stefan Kochanek
Stefan Kochanek studierte Medizin an der Universität Köln, gefolgt von einer 3,5-jährigen klinischen Tätigkeit in Innere Medizin. Nach einer naturwissenschaftlichen Ausbildung am Institut für Genetik der Universität Köln mit Untersuchungen zur Bedeutung von DNA Methylierung arbeitete er für 4 Jahre am Institute for Molecular and Human Genetics, Baylor College of Medicine, Houston, TX, USA, klinisch im Bereich Humangenetik und wissenschaftlich im Bereich Gentherapie. Im Anschluss war er Arbeitsgruppenleiter am Zentrum für Molekulare Medizin (ZMMK) der Universität Ulm. Seit 2003 leitet er die Abteilung Gentherapie der Universität Ulm. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Gentherapie von angeborenen und erworbenen Erkrankungen und die grundlagenwissenschaftliche Untersuchung verschiedener neurodegenerativer Erkrankungen einschließlich der Huntington Erkrankung. (https://www.uniklinik-ulm.de/abteilung-gentherapie.html)

Über ToPAG
Neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson oder die Huntington zeichnen sich durch toxische Proteinablagerungen in bestimmten Gehirnregionen aus. Wie genau diese Aggregate Nervenzellen schädigen und zu deren Absterben führen, erforscht das ToPAG (Toxic Protein AGgregation in neurodegeneration) Konsortium, ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern der beiden Max-Planck-Institute in Martinsried bei München. Wolfgang Baumeister, Ulrich Hartl und Matthias Mann, Direktoren am MPI für Biochemie, und Rüdiger Klein, Direktor am MPI für Neurobiologie, leiten dieses interdisziplinäre Forschungsprojekt. Sie kombinieren verschiedene Methoden der zellulären Biochemie, Proteomics und Kryo-Elektronentomographie, um die grundlegenden Mechanismen der Toxizität von Proteinaggregaten aufzuklären. Das Projekt wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC) gefördert. (http://www.topag.mpg.de)

Über das Max-Planck-Institut für Biochemie
Das Max-Planck-Institut für Biochemie (MPIB) in Martinsried bei München zählt zu den führenden internationalen Forschungseinrichtungen auf den Gebieten der Biochemie, Zell- und Strukturbiologie sowie der biomedizinischen Forschung und ist mit rund 35 wissenschaftlichen Abteilungen und Forschungsgruppen und ungefähr 800 Mitarbeitern eines der größten Institute der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. Das MPIB befindet sich auf dem Life-Science-Campus Martinsried in direkter Nachbarschaft zu dem Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Instituten der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Innovations- und Gründerzentrum Biotechnologie (IZB). (http://biochem.mpg.de)

Über die Universität Ulm
Die Universität Ulm, jüngste in Baden-Württemberg, wurde 1967 als Medizinisch-Naturwissenschaftliche Hochschule gegründet. Seither ist das Fächerspektrum deutlich erweitert worden. Die zurzeit rund 10 000 Studentinnen und Studenten verteilen sich auf vier Fakultäten („Medizin“, „Naturwissenschaften“, „Mathematik und Wirtschaftswissenschaften“ sowie „Ingenieurwissenschaften, Informatik und Psychologie“). Die Universität Ulm ist Motor und Mittelpunkt der Wissenschaftsstadt, in der sich ein vielfältiges Forschungsumfeld aus Kliniken, Technologie-Unternehmen und weiteren Einrichtungen entwickelt hat. Als Forschungsschwerpunkte der Universität gelten Lebenswissenschaften und Medizin, Bio-, Nano- und Energiematerialien, Finanzdienstleistungen und ihre mathematischen Methoden sowie Informations-, Kommunikations- und Quanten-Technologien. Im Times Higher Education Young University Ranking ist die Universität Ulm 2017/18 die beste deutsche Universität unter 50 Jahren und unter den Top 10 weltweit.