VON CLEMENS POKORNY | 04.04.2014 16:55

Klicksonar – Ohren statt Augen

Eines von 5000 Kindern wird in Deutschland jedes Jahr blind geboren, weitere kommen aufgrund von Erkrankungen in den ersten Lebensjahren hinzu. Frühförderung gab es bislang kaum. Doch mit „Klicksonar“ verbreitet sich in Deutschland seit 2011 eine Methode, mit der Blinde ihre Umwelt wie Fledermäuse wahrnehmen können – anhand eines Zungenschnalzens, aus dessen Echo das Gehirn ein dreidimensionales Bild der Umgebung gewinnen kann. Ein betroffenes Elternpaar macht Klicksonar bekannt und forciert mit seinem Verein weitere Maßnahmen für die Frühforderung blinder Kinder.

"Das Sehen liegt nicht in den Augen, es liegt im Gehirn." Betaste einen Gegenstand mit geschlossenen Augen, und du findest die Wahrheit dieses Satzes bestätigt. Aber der US-Amerikaner Daniel Kish (* 1965) hat eine viel bessere Methode entwickelt, um seine Umwelt ohne Augen wahrnehmen zu können. Der Blinde erzeugt „Klick“-Geräusche mit seiner Zunge und sieht seine Umgebung mit dieser „Klicksonar“ genannten Technik dreidimensional – ohne Augen.

Studium und Behinderung

Im Alter von 13 Monaten verlor Kish aufgrund einer Krebserkrankung seine Augen. Damals wie heute bedeutete das für die meisten betroffenen Kinder, enorme Entwicklungsnachteile hinnehmen zu müssen. Es gab keine Langstöcke („Blindenstöcke“) für Unter-Sechsjährige, und die nach den Bedürfnissen der „Guckis“ gestalteten Lebensräume hemmen Kinder aufgrund der vielfältigen Gefahren in ihrem Bewegungsdrang. Auch Kinderbücher mit erhabenen Bildern und Blindenschrift gibt es kaum – in Deutschland waren bis 2011 gerade einmal drei solche Werke mit erhöhtem Förderpotential zu bekommen. Doch Daniel Kish entdeckte als Kleinkind, dass er seine Umwelt wie eine Fledermaus sehen kann. Ein scharfer, leiser Klick mit der Zunge erlaubte es ihm schon bald, nicht nur Hindernisse zu erkennen, sondern auch immer komplexere Objekte in bis zu 200 Metern Entfernung zu identifizieren. Denn jeder Gegenstand wirft ein anderes Echo zurück, das eine dreidimensionale Vorstellung von ihm erlaubt. Doch nur, wenn der gerichtete Schall an einem festen Platz möglichst nahe der Ohren erzeugt wird, kann das Gehirn sein Echo richtig verarbeiten. Und im Prinzip kann jeder Mensch in einigen Wochen professionell angeleiteten Trainings lernen, die zurückgeworfenen Geräusche per „Klicksonar“ zu unterscheiden.

Obwohl Kish als Erwachsener sich der Verbreitung seiner revolutionären Methode widmete, war sie in Deutschland lange Zeit völlig unbekannt. Das änderte sich 2011, als die Berliner Ellen Schweizer und Steffen Zimmermann nicht mehr hinnehmen wollten, dass die Grenzen ihrer kleinen Tochter Juli von ihrer Blindheit statt von ihrer Persönlichkeit bestimmt werden sollten. Sie stießen auf Daniel Kish und Klicksonar und engagierten ihn, ihrer Tochter die Technik beizubringen. Doch Ellen und Steffen ging es um mehr: Sie wollten auch anderen Blinden in Deutschland dabei helfen, ihren Alltag autonomer zu gestalten. Dazu gründeten sie den Verein „anderes sehen e.V.“, der seit 2011 Kishs Methode für Kinder propagiert, weiter verbreitet und sich dafür einsetzt, dass Klicksonar zum Standard in der Ausbildung von Blinden in der Bundesrepublik wird. Bei einem kleinen spezialisierten Verlag in Frankreich gibt anderes sehen e.V. regelmäßig neue Titel taktiler (also mit dem Tastsinn erfahrbarer) Kinderbücher in Auftrag. In Österreich haben sie dieses Ziel bereits erreicht. Und für ihren Einsatz für ein selbstbestimmtes Leben blinder Kinder wurden Ellen und Steffen bereits mehrfach ausgezeichnet.

Zurecht: Denn nicht zuletzt die von ihnen multiplizierte Methode Klicksonar stellt einen entscheidenden Fortschritt gegenüber dem Langstock dar. Die oder der Blinde hat beide Hände für Anderes frei und nimmt auch Strukturen und damit Gefahren in seiner Umgebung wahr, die sich nicht am Boden, mithin außerhalb der Reichweite des Stocks befinden. Trotzdem ersetzt Klicksonar den Blindenstock nicht – auf abschüssigem Gelände, etwa bei Bordsteinkanten abwärts, ist selbst Daniel Kish auf ihn angewiesen. Dafür erkennt er an Kreuzungen jedes Detail von der Zahl der wartenden Autos über den Standort der Ampeln bis hin zu den anderen Passanten. Dank seiner Technik kann Kish sogar Fahrrad fahren!