VON KATHARINA THEHOS |
26.02.2013 17:56
Was die Arbeitswelt von der Luftfahrt lernen kann
Soziologe Dr. Norbert Huchler zeigte in seiner Dissertation an der TU Chemnitz am Beispiel von Piloten, wie Menschen mit sich wandelnden Arbeitsbedingungen umgehen
Heute Paris und Barcelona, morgen Helsinki und Berlin - Piloten sind ständig auf Achse. Die "Entgrenzung der mobilen Lebensführung von Piloten" untersuchte Soziologe Norbert Huchler in seiner Dissertation an der
Technischen Universität Chemnitz. Seine Ergebnisse sind nun unter dem Titel "Wir Piloten. Navigation durch die fluide Arbeitswelt" im Verlag edition sigma erschienen. "Das Buch wendet sich gleichermaßen an Arbeits- und Mobilitätsforscher wie auch an Interessierte aus der Luftfahrt. Es öffnet den Luftverkehr für die Sozialwissenschaften, bietet einen tiefen Einblick in das Leben und Arbeitsleben von Piloten, diskutiert aktuelle Entwicklungen im Luftverkehr und reflektiert Folgen des Wandels", fasst Dr. Huchler zusammen.
Welche Strategien wenden Piloten an, um mit den Mobilitätsanforderungen umzugehen? Norbert Huchler unterscheidet vier Konzepte der Lebensführung: Erstens die "traditionelle Lebensführung". Diese basiert auf einem traditionellen (Geschlechter-)Rollenverständnis im Privatleben und einer klaren hierarchischen Arbeitsteilung. Zweitens die "strategische Lebensführung", bei der vieles dem beruflichen Fortkommen untergeordnet wird. Drittens die "gemeinschaftliche Lebensführung". "Diese Menschen ziehen Kraft aus einer Art sozialen Stimmigkeit - im Privatleben und im Beruf. Die soziale Abstimmung mit anderen ist jedoch oft auch mit persönlichen Einschnitten verbunden, zum Beispiel mit langjährigem Pendeln", erklärt Huchler. Als viertes benennt er die "situative Lebensführung", die auf dem "Leben im Moment" basiere. Große Freiheit und Flexibilität gehen dabei einher mit reduzierter Bindungsfähigkeit und oft auch materiellen Einschnitten.
Seine Forschungsergebnisse aus der Luftfahrt lassen sich auch auf andere Berufsgruppen übertragen. Denn immer mehr Menschen sind gezwungen, ein mobiles Leben zu führen. Zu den Anforderungen zählen längeres Pendeln vor und nach der Arbeit, das Arbeiten unterwegs, berufsbedingte Reisen und Umzüge. Immer mehr Arbeitende müssen deshalb zeitlich flexibel sein, mit ständig neuen Kollegen, veränderter Technik oder unterschiedlichen Arbeitsorten umgehen. Die Erfahrungen, die Piloten mit diesen Herausforderungen bereits gesammelt haben, helfen ihnen, mit dem aktuellen Wandel - auch jenseits räumlicher Mobilität - umzugehen, der viele Arbeitsgebiete betrifft: Schlagworte sind beispielsweise Globalisierung, Liberalisierung, Ökonomisierung und Dezentralisierung. "Auf Grund der bisherigen Erfahrung mit Mobilität im Luftverkehr ist es für andere Berufsgruppen sehr interessant zu sehen, wie die Piloten mit diesen neuen Flexibilitätsanforderungen umgehen", so Huchler. "Bedeutsam ist auch, wi e der deutsche Personenluftverkehr - insbesondere der Gesetzgeber, die Arbeitgeber und die Interessenvertretung - bislang die entgrenzte Arbeit von Piloten gerahmt und damit auf Dauer ermöglicht haben. Insbesondere hier bieten sich zahlreiche Übertragungsmöglichkeiten auf andere Berufe", fasst Huchler zusammen.
Untersuchungen zu Arbeitsbedingungen und Belastungen müssten neben den konkreten Kriterien vor Ort viel stärker die jeweilige Gesamtsituation der Beschäftigten in Arbeit und Leben in den Blick nehmen, schätzt der Soziologe ein. "Dabei muss im Fokus stehen, wie sie mit den Bedingungen individuell umgehen. Denn die Art des Umgangs ist von zentraler Bedeutung, ob bestimmte Bedingungen belastend wirken oder gegebene Chancen genutzt werden", so Huchler. Verschiedene Lebensführungsformen - und nicht nur eine - zu ermöglichen und zu unterstützen, sei die eine notwendige Seite. Sich der eigenen Lebensführung bewusst zu werden die andere. "Jedoch würde ein instrumentelles Herangehen, wie es in der Ratgeberliteratur üblich ist, mit dem Ziel, die eigene Lebensführung zu optimieren, genau die entlastende Funktion der Lebensführung verringern - nämlich nicht die ganze Zeit reflektieren zu müssen", sagt Huchler.
Bei seiner Untersuchung griff der Soziologe auf Erkenntnisse und empirische Materialien zurück, die im Projekt "Multiple Entgrenzung der Arbeit des fliegenden Personals im kommerziellen Luftverkehr" erzielt wurden. Dieses wurde von 2005 bis 2008 an der
TU Chemnitz von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Im Rahmen der Doktorarbeit hat Huchler 40 Interviews mit Piloten aus neun deutschen Airlines ausgewählt und nochmals mehrstufig ausgewertet. Betreut wurde die Doktorarbeit von Prof. Dr. G. Günter Voß, Inhaber der Professur Industrie- und Techniksoziologie, der auch das DFG-Projekt leitete. "Ich gehe davon aus, dass die Studie eine Schlüsseluntersuchung wird - nicht nur für die gerade erst entstehende sozialwissenschaftliche Verkehrsforschung, sondern auch für die weitere Mobilitätssoziologie, die Lebensführungsforschung und allgemein in der Debatte zur Entgrenzung von Arbeit", sagt Voß und betont: "Für den Luftverkehr kann sie sogar als Pionierstudie gelten."
Norbert Huchler erhielt für seine mit "summa cum laude" bewertete Doktorarbeit den Dissertations-Preis 2012 der Sektion Arbeits- und Industriesoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.