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Marieke Behnel  |  29.09.2015 10:12

Mangelnde Empathie kann Internetsucht begünstigen

Forscher aus Ulm und Bonn entdecken interkulturellen Zusammenhang

Um sie herum stapeln sich Pizzakartons und Berge schmutziger Wäsche: Menschen, die abhängig vom Internet sind, vernachlässigen oft ihre Arbeit und Gesundheit oder ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück. Häufig sind es Jugendliche, die Facebook, Twitter und Youtube verfallen – und das weltweit. Besonders betroffen scheinen asiatische Länder zu sein. Psychologen aus Ulm und Bonn haben jetzt in Deutschland und China untersucht, ob Persönlichkeitseigenschaften wie mangelnde Empathie eine Internet-Abhängigkeit begünstigen können und ob dieser Effekt kulturell bedingt ist. Ihre Erkenntnisse veröffentlichen sie jetzt im Asian Journal of Psychiatry.

Bei immer mehr Menschen stellen Wissenschaftler einen problematischen Umgang mit dem Internet, auch Internetsucht genannt, fest. Betroffene schieben zu erledigende Aufgaben aus Beruf und Privatleben auf, gefährden durch schlechte Ernährung und Bewegungsmangel ihre Gesundheit oder meiden zwischenmenschliche Kontakte, um in sozialen Netzwerken oder Online-Spielen aktiv zu sein. „Mir sind Fälle bekannt, bei denen Jugendliche ihre Ausbildung wegen des Internets ‚verdaddelt‘ haben“, berichtet Professor Christian Montag, Leiter der Abteilung für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm und Senior-Autor der Studie. Es ist nach wie vor nicht endgültig geklärt, warum manche Menschen und besonders Jugendliche anfälliger für die Online-Abhängigkeit sind als andere. Zudem lässt sich das Phänomen weltweit beobachten: „Problematische Internetnutzung tritt vor allem in asiatischen Ländern auf. In Südkorea sind sogar Menschen gestorben, nachdem sie beispielsweise mehrfach 50 Stunden ohne Unterbrechung online ‚gezockt‘ haben“, sagt Heisenberg-Professor Montag. „Aber auch in westlichen Kulturkreisen nimmt das Problem zu.“ Gemeinsam mit Psychologen der Uni Bonn hat der Ulmer Molekularpsychologe deshalb in Deutschland und China 640 Studierende zu ihren Internetgewohnheiten und Empathie befragt.

„Mitgefühl empfinden zu können, ist eine wichtige Fähigkeit, um erfolgreich mit anderen Menschen zu interagieren“, erläutert Erstautor und Empathie-Forscher Martin Melchers, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Differentielle und Biologische Psychologie an der Uni Bonn. „Jemandem, der lieber im Internet unterwegs ist, als sich in einem Café mit anderen zu treffen, fällt es wahrscheinlich auch schwerer, sich in andere hineinzuversetzen.“ Mit ihrer Studie verknüpfen die Wissenschaftler Internetsucht- und Empathieforschung; Themen, die – in einer Fragestellung zusammengefasst – bislang kaum untersucht worden sind. Auch der kulturelle Aspekt habe bisher wenig Beachtung gefunden, so die Autoren.

Die Studierenden wurden unter anderem danach gefragt, wie gut sie Gemütszustände ihrer Mitmenschen einschätzen und deren Reaktionen vorhersagen können. Im Internetsucht-Fragebogen machten die Teilnehmer Angaben dazu, ob sie beispielsweise verheimlichen, wie lange sie im Internet sind oder was sie online machen. Die Selbstauskünfte der Studierenden zeigten dabei eines deutlich: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zum Mitgefühl und problematischer Internetnutzung. Erstaunt hat die Forscher, wie robust die Ergebnisse sind: „Der Zusammenhang zwischen geringer Empathie und übermäßiger Online-Aktivität tritt unabhängig von Alter, Kultur und Geschlecht auf. Denn obwohl sich die Stichproben hinsichtlich Alter und Geschlechtsverteilung signifikant unterscheiden, ist der Effekt auch nach Bereinigung der Ausgangsunterschiede durchgängig vorhanden“, sagt Melchers. Dies sei allerdings ein Henne-Ei-Problem, ergänzt Montag. „Senkt übermäßige Nutzung von Online-Medien die Empathie-Fähigkeit oder führt andersherum mangelndes Mitgefühl zu Internetsucht?“ Die aktuelle Studie kann diese Frage nicht final beantworten. Sie liefert allerdings Hinweise, dass Persönlichkeitseigenschaften wie Empathie die Triebfeder für Internetsucht sein könnten. Diese formen sich über Jahre hinweg und ändern sich nicht kurzfristig.

Angesichts negativer Auswirkungen von Onlineübernutzung wie soziale Isolation, gesundheitliche Risiken und mögliche Arbeitsplatzverluste sehen die Forscher die dringende Notwendigkeit, dass die generalisierte Internetsucht als zunehmendes Problem und in Zukunft möglicherweise sogar als eigenständige Diagnose anerkannt wird. Generalisiert bedeute, so die Autoren, dass Betroffene sich mit Inhalten beschäftigen, die wie Facebook und Twitter nur online möglich sind. Bisher ist nur die spezifische Onlinespielsucht als „Emerging Disorder“ klassifiziert worden. Das heißt, dass das Problem als sich neu abzeichnendes Störungsbild bereits akzeptiert ist, es aber die Kriterien für eine anerkannte Diagnose noch nicht erfüllt. Spezifische Abhängigkeiten beziehen sich auf Online-Aktivitäten, die auch ohne Internet auftreten können. Dazu zählen Glücksspiel- oder Pornografiesucht. Die Einstufung als offizielle Diagnose ist wichtig, weil Psychiater und Psychologen nur dann entsprechende Behandlungen und Therapien der Krankenkasse als Leistungen in Rechnung stellen können.