VON JOACHIM SCHEUERER | 02.12.2013 15:29

Der Studiengang „Gender Medizin“ und die lang überfällige medizinische Unterscheidung zwischen Mann und Frau

Während sich populärwissenschaftliche Bücher, selbsternannte psychologische Ratgeber bis hin zu Kabarettisten und Komödianten schon seit langem über die großen Unterschiede zwischen den Geschlechtern auslassen, steckt die medizinische Berücksichtigung von Ungleichheiten bei Mann und Frau im Krankheitsfall seltsamerweise noch in den Kinderschuhen. Von der Physiologie über die Wahrnehmung zur Art und Weise, wie sich über Symptome und Schmerzen verständigt wird, weisen Männer und Frauen wesentliche und zu großen Teilen auch gesellschaftlich und kulturell bedingte Eigenheiten auf, die im Zuge der Behandlungsoptimierung, Früherkennung und Prophylaxe immer wichtiger werden. Nach und nach beginnen die Universitäten nun damit, die Gender-Medizin in ihr Curriculum mit aufzunehmen. Zum Glück und zu Recht, denn unter Umständen kann eine Fehldiagnose aufgrund mangelnder Beachtung spezifischer geschlechtlicher Besonderheiten des Krankheitsverlaufs verheerende Auswirkungen für die Patienten/innen haben.


Mutter, Mutter, Kind

Dem Erkenntniszuwachs im Bereich der Gender Medizin seit den 90er Jahren und der steigenden Einsicht in die Notwendigkeit einer für Geschlechtsunterschiede sensibilisierten Medizin tragen derzeit u.a. die Forschungs- und Lehraktivitäten des „Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin“ der Berliner Charité , ein spezielles Basis Curriculum der Universität Ulm, sowie eine Ringvorlesung an der RWTH Aachen, Rechnung. Dennoch gibt es noch viel Ausbaubedarf der derzeit größtenteils freiwilligen Ergänzungsangebote für Medizinstudenten, hin zu einer verpflichtenden Integration des Gender-Aspekts in den Lehrplan.

Unterschiede im Auftreten von Krankheiten und ihrem Verlauf resultieren allein schon aus dem verschiedenen Gewicht von Männern und Frauen sowie differenten Körpergrößen und Staturen. Zudem sind die Gehirne beider Geschlechter zum Teil anders organisiert.

Die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek beschreibt diesbezüglich z.B. die andersartigen Symptome im Falle eines Herzinfarktes bei Frauen, wie z.B. Übelkeit, starke Transpiration oder Schmerzen im Rücken, welche sich häufig wesentlich „differenzierter“ bemerkbar machten als bei Männern. So kann es leider schon mal passieren, dass Patientinnen aufgrund der fehlenden Sensibilisierung der Mediziner wegen Brust- und Halsschmerzen zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt geschickt werden, anstatt eine angemessene Behandlung des Herzinfarkts zu erhalten.

Der Anstieg des Herzinfarktrisikos für Frauen unter 60 Jahren bei gleichzeitigem Niedergang des Risikos für Männer seit 1995 ist eng mit diesem Mangel an Berücksichtigung von Geschlechterunterschieden verwoben. Zugleich werden Herzinfarkte bei älteren Frauen oft übersehen, da Männer häufiger in jüngeren Jahren einen Infarkt bekommen und deshalb mehr Aufmerksamkeit erhalten. Jüngere Frauen fallen dabei zu ihrer großen Gefahr oft ganz aus dem Raster, da hier niemand einen Herzinfarkt vermutet.

Die Vernachlässigung eines Geschlechts tritt jedoch durchaus auch umgekehrt auf, weshalb die Gender Medizin nicht bloß als reine medizinische Emanzipation der Frau anzusehen ist. So verweist Regitz-Zagrosek auf die mangelhafte Berücksichtigung und Behandlung von Männern mit Osteoporose, da jene als typische Frauenerkrankung gilt, sowie die kulturell bedingte Bagatellisierung beispielweise von Depressionen bei Männern, welche jene u.U. öfter verheimlichen, um nicht als schwach und unmännlich zu erscheinen.

Dagegen sind Frauen wiederum in Medikamentenstudien unterrepräsentiert, nicht zuletzt aufgrund des Contergan-Skandals zu Beginn der 60er Jahre. Als Schutzmaßnahme gegenüber (potenziell) schwangeren Frauen ist dies sicherlich nötig und richtig so. Dennoch gäbe es vielleicht einige Bereiche in denen neue Daten über die Verträglichkeit, Dosierung etc. bei Frauen hilfreich wären.

Ebenso wie auch Kinder und Jugendliche einer spezifisch zugeschnittenen medizinischen Versorgung bedürfen, bedeutet die Gleichbehandlung von Mann und Frau im medizinischen Sinne also nicht die identische Bekämpfung von Krankheiten, sondern das gleichwertige Eingehen auf ihre konkreten aber ungleichen Symptome und Bedürfnisse. Zeit wird´s.