VON CLEMENS POKORNY | 24.11.2015 14:24

Die Selektorenlisten – eine erneute Schande für BND und Kanzleramt

Eigentlich sollte er aufklären, wie es dazu kommen konnte, dass der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) sich von seinem US-amerikanischen Pendant National Security Agency (NSA) knapp zehn Jahre lang diktieren ließ, wen er gegen Absprachen undzum Teil sogar gegen geltendes Recht in Europa für die USA ausspionieren sollte. Doch der Sonderermittler in der Affäre um die sogenannten Selektorenlisten hinterließ beim Untersuchungsausschuss eher den Eindruck, ein Gefälligkeitsgutachten erstellt zu haben.


Deutschland ist für die USA nur ein Partner 3. Klasse. Das wissen wir seit Edward Snowdens Enthüllungen. Dieser Status war für den US-Geheimdienst NSA wohl Legitimation genug, um den deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) zu bitten, für ihn verschiedene deutsche Ziele auszuspionieren. Ein Ding der Unmöglichkeit, möchte man meinen. Selbstverständlich hat der BND auch viele Anfragen von vornherein abgelehnt – freilich nicht alle.

Doch von Anfang an: Ab 2005 baten die US-Amerikaner die Deutschen immer wieder, die Datenströme, auf die der BND Zugriff hat(te), nach bestimmten Suchbegriffen zu filtern und die Ergebnisse zu übermitteln. Dieser Auftrag war Teil eines geheimen „Memorandum of Agreement“, eines Vereinbarungsabkommens zwischen den beiden Geheimdiensten. Die „Selektoren“ genannten Suchbegriffe, insgesamt fast 40.000 im Lauf der Jahre, wurden jeweils in Listen zusammengestellt und umfassten vor allem E-Mailadressen. Zu über zwei Dritteln betrafen die Selektoren der NSA EU-Regierungsbehörden, zwar nicht die jeweiligen Regierungschefs und Minister selbst, doch deren enge Mitarbeiter. Fast ein Sechstel der Suchbegriffe betraf deutsche Telekommunikationsteilnehmer, die laut Artikel 10 GG vor der anlasslosen Überwachung durch den BND geschützt sind, unter anderen die Rüstungsunternehmen Eurocopter und EADS. Alleine schon der Versuch, den BND zum Ausspähen deutscher Staatsbürger zu nutzen, verstößt gegen das „Memorandum of Agreement“. Und mehrere Ziele wurden vom BND nicht sofort aussortiert, sondern tatsächlich monatelang ausspioniert: Zum Beispiel der hochrangige Diplomat Hansjörg Haber, dessen Frau Staatssekretärin zunächst im Auswärtigen Amt war (!) und seit 2014 in gleicher Funktion im Bundesinnenministerium tätig ist.

Der Staatstrojaner

Vier Monate lang war der Sonderermittler der Bundesregierung, Kurt Graulich, mit der Aufklärung der Affäre beschäftigt. Er vermutet, dass Naivität der Grund für die Nachlässigkeit des BND bei der Prüfung der Selektoren auf ihre Rechtmäßigkeit hin sei. Erst die Enthüllungen von Edward Snowden, der Belege für die massive verdachtsunabhängige Überwachung des globalen Datenverkehrs seitens der USA und des Vereinigten Königreichs publik gemacht hatte, hätten nach Graulich die Verantwortlichen im BND dazu gebracht, die Selektoren daraufhin zu prüfen, ob sie im Einklang mit dem Memorandum of Agreement stünden. Doch auch Graulich selbst kann man Schlamperei vorwerfen – möglicherweise sogar absichtliche.

In seinem Abschlussbericht zu den Selektorenlisten macht er sich nämlich zwei Positionen des BND zu eigen: Erstens, dass das Grundgesetz im Weltraum nicht gelte, dass mithin von Satelliten abgefangene Daten nicht dem Schutz von Artikel 10 GG unterlägen. Und zweitens, dass auch die Speicherung und Weitergabe sogenannter Metadaten (also Verbindungsdaten ohne den Inhalt der jeweiligen Kommunikation) rechtlich nicht zu beanstanden seien, weil diese Daten nur sehr schwer konkreten Personen zuzuordnen seien. „Metadaten töten“, sagt dagegen der ehemalige NSA-Chef Michael Hayden – und ein Referat des Kanzleramts bewertete die „Weltraumtheorie“ als juristischen Unfug, bis ein CDU-Politiker im Hause diese Einschätzung – wie sie bis heute der NSA-Untersuchungsausschuss mehrheitlich teilt – wieder zurücknahm. Graulich hat in den beiden Punkten einfach und zum Teil wörtlich aus einem vierseitigen Kurzgutachten des BND abgeschrieben, und zwar ohne Quellenangabe. So wird der Bock zum Gärtner gemacht – versehentlich? Graulich focht die Kritik auch vor dem Untersuchungsausschuss nicht an, er stellt die NSA als Alleinschuldige an der Selektoren-Affäre dar.

So bleibt zu befürchten, dass der unrechtmäßige Abhörauftrag der NSA an den BND die gleichen Folgen zeitigen wird wie die Ausspähung des Kanzlerin-Handys durch die USA: nämlich gar keine. Bis heute dürfen die Bundestagsabgeordneten die vollständigen Selektorenlisten nicht einsehen; nur die Untersuchungsausschuss-Mitglieder dürfen erfahren, welche Selektoren vom BND abgelehnt wurden – die akzeptierten bleiben ganz geheim. Merkels empörte Feststellung, Abhören unter Freunden „geh[e] gar nicht“, wird von einem deutschen Geheimdienst ein weiteres Mal konterkariert – zu Lasten deutscher Bürger, Bürgerinnen und Firmen.