VON CLEMENS POKORNY | 15.06.2015 16:03

Kommt das Ende der Netzneutralität?

Noch werden Daten im Internet gleich behandelt. Doch in naher Zukunft schon könnte es mit der „Netzneutralität“ vorbei sein: Dann gäbe es eine Zweiklassengesellschaft im Netz, in der manche Nutzer gegenüber anderen bevorzugt würden. Laut der Bundesregierung nützt dies der Wirtschaft. Kritische Stimmen befürchten dagegen unter anderem, dass das Internet der zwei Geschwindigkeiten die Marktmacht bereits großer Firmen zulasten des Wettbewerbs weiter festigen könnte.

Das Internet ist für uns Alle Neuland.“ Dies stellte Angela Merkel im Juni 2013 fest. Der Satz ist ebenso entlarvend wie anmaßend: Entlarvend, weil er verrät, wie wenig Ahnung die Bundeskanzlerin noch im Jahr 2013 vom weltweiten Netzwerk hatte. Und anmaßend, weil sie unterstellte, dass nicht nur sie, sondern auch alle ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger vom Internet kaum etwas verstünden. Ob Merkel ihre Web-Kenntnisse seitdem erheblich verbessert hat, ist nicht bekannt. Mittlerweile hat sie sich aber jedenfalls eine Meinung zu einer damit verbundenen, zentralen Frage gebildet, nämlich zur Netzneutralität.

Damit ist die Tatsache gemeint, dass ein Internetdienstanbieter (also ein Telekommunikationsunternehmen) alle Daten im Internet – oder zumindest alle Daten ein und derselben Art, z.B. Filmstreams, untereinander – mit der gleichen Geschwindigkeit transportiert. Diese Gleichstellung der Inhalte impliziert eine Gleichheit der Nutzer – wenn man einmal davon absieht, dass unterschiedliche Vertragstarife mit unterschiedlichen Datenraten angeboten werden.

Die Netzneutralität wird von vielen Beobachtern als Schlüssel zu Innovationen im Netz angesehen. Diese gingen in der Gründerzeit des Internets vor allem von Start-Ups aus, die bei Null anfingen und heute z.T. riesige Konzerne bilden, etwa Google oder auch YouTube. Doch der Datenstrom wächst stetig an und wird noch schneller zunehmen, wenn z.B. immer mehr Menschen weltweit einen Internetzugang haben oder auch immer mehr Haushaltsgeräte an das Internet angeschlossen sind („Internet der Dinge“). Die Internetdienstanbieter müssen daher ihre Netze permanent ausbauen und verbessern. Die anfallenden Kosten sollen natürlich primär von denjenigen Kunden getragen werden, die einen sehr hohen Traffic generieren. Das sind nicht die Privatleute, die zuhause einen Stream ansehen, sondern z.B. Unternehmen, die laut den Internetdienstanbietern in Zukunft von Übertragungsraten von 10 Gigabyte pro Sekunde (bisher max. 100 Megabyte) profitieren könnten. Ein Internet verschiedener Geschwindigkeiten gibt es also jetzt schon; in Zukunft könnte sich dies verschärfen; doch solange die Übertragungsraten für die privaten Nutzer gleich bleiben, haben diese keinen Nachteil davon – sollte man meinen.

Lobby gleich Legislative?

Es kann nämlich befürchtet werden, dass die Internetdienstanbieter ihre Macht missbrauchen könnten, und die Realität scheint das auch zu bestätigen. Schon heute können iPhone-Nutzer, die ihren Mobilfunkvertrag bei der Telekom abgeschlossen haben, das Angebot kostenloser Telephonie bei einem Konkurrenten der Telekom nicht nutzen – Skype. Große Firmen wie Google, deren Erfolg auch auf schnellem Internet gründet, könnten von Telekommunikationsunternehmen gezwungen werden, sich eine dauerhaft hohe Übertragungsrate ihrer Daten für hohe Summen zu erkaufen – Summen, die Start-Ups nicht hinblättern können. Vom Ende der Netzneutralität würden also nur solche Unternehmen profitieren, die bereits größere Marktanteile besitzen, weil sie für schnelles Internet zwar mehr bezahlen müssten als bisher, aber dafür bessere Verbindungsqualität geboten bekämen und vor allem ihrer kleineren Konkurrenz der Weg nach oben erschwert würde. Und vor allem wäre das Internet ohne Netzneutralität selbstredend eine Goldgrube für die Telekommunikationsunternehmen.

Ob sie nun auf der Druck von deren Lobby reagiert hat oder nicht: Die Bundesregierung hat sich schon Anfang Dezember 2014 auf eine Zweiklassengesellschaft von gewöhnlichen Internetnutzern und Spezialkunden geeinigt. Unter Letztere fallen laut Merkel etwa führerlose Autos und Krankenwägen, die in Echtzeit mit Spezialisten im Krankenhaus kommunizieren können sollen, um Menschenleben zu retten (eine Form der sogenannten Telemedizin). Doch diese Argumente lassen sich leicht widerlegen, wie es der Piratenpartei-Politiker Daniel Schwerd kurz darauf im Handelsblatt getan hat: Die Sicherheit der Insassen weder von führerlosen Fahrzeugen noch gar von Krankenwägen dürfen von einer stabilen Internetverbindung abhängig sein – auch diese kann zusammenbrechen, etwa in Tunnels. Und für die Kommunikation in Echtzeit ist das Internet weder konzipiert noch geeignet.

Es steht also zu befürchten, dass das Argument von den Spezialdiensten nur vorgeschoben ist. Und schon knappe zwei Monate vor der Einigung der Bundesregierung hatte Merkel in einer Pressemitteilung versucht, den Begriff „Netzneutralität“ neu zu definieren, damit er mit der Bevorzugung von Spezialdiensten vereinbar sei. Die Aufweichung der Netzneutralität war offenbar von langer Hand vorbereitet – ob sie wirklich die Wirtschaft fördert oder nur einigen (Quasi-)Monopolisten nützt und so das Konkurrenzprinzip der Marktwirtschaft unterläuft, wird sich zeigen. Denn anders als das Internet wäre ein Ende der Netzneutralität in Europa weltweit tatsächlich Neuland.