VON CLEMENS POKORNY | 22.07.2015 13:47

Fünfzehnjähriges Jubiläum: „Titanic“ holt die WM nach Deutschland

Nicht Franz Beckenbauer und sein Team haben die Fußball-WM vor genau 15 Jahren nach Deutschland geholt – sondern das Satiremagazin „Titanic“. Dessen damaliger Chefredakteur hatte erfolgreich versucht, einige FIFA-Funktionäre mit einem offensichtlich nicht ernst gemeinten Angebot zu bestechen. UNI.DE erinnert an die Aktionen vom Juli 2000 und das Recht auf Kritik und Satire als Teilaspekte der Pressefreiheit.


2006 kam die Fußball-Weltmeisterschaft der Herren zum zweiten Mal nach 1974 nach Deutschland. Anders als Paul Breitner, Sepp Maier, Günter Netzer oder auch Jupp Heynckes konnte die Mannschaft um Michael Ballack den Titel zwar nicht erringen. Doch schon die Tatsache, dass die FIFA-WM in Deutschland stattfand, war eine kleine Sensation.

Bild, BamS und Politik

Rückblick: Im Jahr 2000, als über das Gastgeberland der Spiele sechs Jahre später entschieden wurde, deutete lange Zeit alles auf eine Vergabe des Turniers an Südafrika hin. Franz Beckenbauer, Kapitän der Weltmeisterschafts-Equipe von 1974, reiste um den Globus und warb für Deutschland. Deutsche Unternehmen taten das Ihre. So investierte Daimler, einer der Sponsoren der deutschen Nationalmannschaft, 800 Millionen Euro in den asiatischen Autobauer Hyundai. Ganz zufällig saß damals der Sohn des Hyundai-Gründers im Exekutivkomitee der FIFA – und es gibt einige ähnliche Fälle. Dennoch sah es noch am Vorabend der FIFA-Entscheidung so aus, als bekäme Südafrika den Zuschlag. Erwartet wurde ein Patt zwischen Südafrika und Deutschland. Dann hätte die Stimme des FIFA-Präsidenten Joseph Blatter entschieden, und dessen Sympathie für den Bewerber vom Kap war bekannt.

Doch es kam anders. Martin Sonneborn, der damalige Chefredakteur des Satire-Magazins „Titanic“ und derzeitiger Vorsitzender der Spaßpartei DIE PARTEI, beschloss, zugunsten seines Heimatlandes einzugreifen. Er schickte spätabends ein Telefax an einige stimmberechtigte FIFA-Delegierte, in dem er ihnen Geschenke für ihre Stimme für Deutschland versprach. In einer zweiten Version des Schreibens nannte er konkret einen Fresskorb mit Spezialitäten aus dem Schwarzwald sowie eine Kuckucksuhr als Gegenleistung. Am nächsten Tag entschied sich die FIFA mit einer Stimme Mehrheit tatsächlich für Deutschland: Der Vertreter Neuseelands, Charles Dempsey, hatte sich entgegen der Anweisung seines Landesverbandes der Stimme enthalten statt für Südafrika zu votieren. In einem CNN-Interview gab er zu: „This final fax broke my neck“. Die Titanic feierte – der Deutsche Fußballbund tobte: Man befürchtete wegen des „Bestechungsversuchs“ eine Annullierung des Abstimmungsergebnisses und einen Imageschaden für den deutschen Fußball. BILD-Leser folgten einem empörten Aufruf des Boulevardblattes und teilten Sonneborn ihre nicht sehr hohe Meinung von seiner Aktion mit (die dümmsten und dadurch witzigsten Kommentare sind als Mitschnitte online anzuhören).

Eine witzige Episode aus der Geschichte des deutschen Fußballs und eine gelungene Satire auf die schamlose Selbstbedienungsmentalität der korrupten FIFA-Funktionäre, wie sich dieses Jahr wieder bestätigt hat! Doch die „Bestechungs“-Affäre steht auch exemplarisch für die zuweilen ungeheure Macht der Medien. Es ist kein Zufall, dass die Faxe nicht von einer Privatperson verschickt wurden, sondern von der Titanic: Einer Zeitschrift, die immer wieder den Mächtigen den Spiegel vorhält. Zugleich folgten BILD-Konsumenten in Scharen dem Aufruf eines Blattes, das zwar nicht mehr so politisch-agitatorisch auftritt wie noch in den 1970er-Jahren oder „The Sun“ bis heute, Meinungen aber nach wie vor vorgibt oder suggeriert, statt zur Meinungsbildung als einem offenen Prozess beizutragen.

Der Aufruf zum Anruf war für BILD eher ein Schuss in den Ofen, offenbaren die veröffentlichten Gespräche zwischen dem Titanic-Chef und den Lesern des Boulevardblatts doch viel von deren geistigen Niveau. Sonneborn musste sich schriftlich dazu verpflichten, zeitlebens nie mehr Einfluss auf Turniervergaben der FIFA zu nehmen. Ein glimpflicher Ausgang, war doch zuerst von einer Schadenersatzklage über 600 Millionen DM die Rede gewesen. Pressefreiheit schließt das Recht auf Bestechung nicht ein, das Recht auf Satire dagegen sehr wohl – und damit das Recht auf Kritik, sei es an Missständen oder an intelligenten Aktionen anderer.