VON CLEMENS POKORNY | 18.04.2013 17:35

Rudi Dutschke und die Studentenbewegung der 1960er-Jahre

Vor 45 Jahren wurde Rudi Dutschke bei einem Attentat schwer verletzt – Anlass für UNI.DE, einen Rückblick auf ihn und die Studentenbewegung der 1960er-Jahre in Deutschland zu werfen!

Mit dem Ende der NS-Diktatur war die Herrschaft der Nazis in Deutschland noch lange nicht gebrochen. Bekanntlich behielten viele ehemalige NSDAP-Mitglieder und sogar Kriegsverbrecher ihre herausragenden Stellungen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft oder bauten sie sogar noch aus, wie der Magnat Friedrich Flick oder die Politiker Kurt Georg Kiesinger (Bundeskanzler 1966-1969) und Karl Carstens (Bundespräsident 1976-1979). Auch weniger exponierte Menschen versuchten, die Rolle zu verschweigen, die sie unter dem Hakenkreuz gespielt hatten. Kein Wunder, dass sie für ihre nach dem Krieg aufgewachsenen Kinder oft keine Vorbilder waren. Deutschlands Wiederbewaffnung ab 1955, der Kalte und damit ein drohender Atom-Krieg sowie die beginnende Globalisierung, in deren Zusammenhang tradierte Werte in Frage gestellt wurden: viele Faktoren mögen dazu geführt haben, dass junge Studenten, aber auch Arbeiter in den 1960er-Jahren in vielen verschiedenen Gruppen für gesellschaftliche Veränderungen eintraten. Einer von ihnen war der Brandenburger Rudi Dutschke.

1940 in eine kleinbürgerliche Familie geboren, ging Alfred Willi Rudi Dutschke schon als 16-Jähriger zum DDR-Regime auf Distanz. Gleichwohl bekannte er sich sowohl zu einem Demokratischen Sozialismus wie auch zum Christentum, was für ihn – wie einst auch für Oscar Wilde – keinen Widerspruch darstellte. Kurz vor dem Bau der Berliner Mauer ging er in den Westen und begann, an der FU Berlin Soziologie, Ethnologie, Philosophie und Geschichte zu studieren. Wie für andere westdeutsche Studenten auch, gehörte für ihn das Studium der Schriften von Marx und in dessen Tradition stehenden Denkern wie Adorno, Lukács oder Bloch einerseits und konkrete politische Aktionen andererseits unzertrennbar zusammen. Kritik am Kapitalismus, aber auch an Macht und Herrschaft überhaupt erörterte er mit Gleichgesinnten in wissenschaftlichen Diskussionen und verbreitete deren Ergebnisse in einer Zeitschrift.

Institut für vergleichende Irrelevanz

Parallel zu Dutschke hatte sich der SPD-nahe „Sozialistische Deutsche Studentenbund“ (SDS) radikalisiert, deren Mitglieder 1961 aus der SPD ausgeschlossen wurden. Vier Jahre später stieß Dutschke mit seiner Gruppe „Subversive Aktion“ zum SDS und veränderte diesen bald weg von seiner früheren DDR-Nähe hin zu einer antiautoritären, undogmatischen Organisation – nicht selbstverständlich für linke Gruppen in dieser Zeit. Der SDS und die Studentenbewegung insgesamt verstanden sich bald als „Außerparlamentarische Opposition“ (APO) gegen die geplanten Notstandsgesetze der Großen Koalition unter Kanzler Kiesinger und für Hochschulreformen, vor allem für mehr studentische Mitbestimmung. Auch gegen den Krieg der USA in Vietnam als einen Stellvertreterkonflikt des Kalten Krieges richteten sich Demonstrationen der Studentenbewegung, wobei einzelne ihrer Vordenker wie Rudi Dutschke zugleich ihre Distanz zum autoritären Staatssozialismus etwa der UDSSR betonten.

Nach der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg begannen die Massenmedien, sich für die Anliegen und Aktionen der Studentenbewegung zu interessieren. Dutschke als deren profiliertester Exponent nahm an zahlreichen Podiumsdiskussionen mit Vertretern des „Establishments“ teil. Die Aufmerksamkeit für die fortschrittlichen Anliegen der jungen Intellektuellen rief den Widerstand der Rechten hervor. So schrieb die „Bild“, damals noch sehr politisch, Anfang 1968: „Man darf [...] nicht die ganze Dreckarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen.“, und rief zum „Ergreifen“ der „Rädelsführer“ der Bewegung auf. Kurz darauf verletzte ein Attentäter Dutschke so schwer, dass er Jahre brauchte, um seine kognitiven Fähigkeiten vollständig wiederzuerlangen. Der Zorn der „1968er“ richtete sich daraufhin vermehrt auch gegen die Springer-Medien als geistige Väter des Anschlags. Ihre Radikalisierung und der Regierungsantritt der vergleichsweise fortschrittlichen sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt trugen dazu bei, dass sich die Studentenbewegung in der Folge schnell aufsplitterte und ihr Einfluss, der heute oft übertrieben dargestellt wird, wieder abnahm.

Wie viele seiner ehemaligen Mitstreiter ging der genesene Rudi Dutschke neue Wege. Anders als sie beteiligte er sich jedoch nicht an kommunistischen Splitterparteien. Zunächst schloss Dutschke 1973 seine Promotion ab, die nicht die erhoffte Wirkung auf die politischen Debatten der Neuen Linken hatte. Zusammen mit seiner Frau und weiteren Weggefährten wandte er sich der entstehenden Anti-AKW-Bewegung zu. 1980 sollte er als Delegierter eines Kongresses Die Grünen mitgründen, erlebte dies jedoch nicht mehr: an Heiligabend 1979 erlitt Dutschke als Spätfolge seiner schweren Hirnverletzungen bei dem Attentat einen epileptischen Anfall in der Badewanne und ertrank.

Die Ideen der Studentenbewegung jedoch leben bis heute: die Frauen-, Friedens-, Umwelt-, Anti-AKW-Bewegungen nahmen von ihr ihren Ausgang. Ohne die 1968er gäbe es heute Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau nicht in der Form, wie wir sie kennen, ebenso hätten Homosexuelle einen wohl noch schwereren Stand in unserer Gesellschaft, und von einem Atomausstieg wären wir wahrscheinlich auch weiter entfernt. Die Studentenbewegung mag auch bewahrenswerte Werte beschädigt haben, aber für viele unglückliche gesellschaftliche Entwicklungen unserer Zeit kann sie schwerlich verantwortlich gemacht werden – im Gegenteil: Sie war ein Motor für gesellschaftliche Veränderung auf demokratischer Grundlage und eine notwendige Entwicklung, die sich auch in vielen anderen Ländern vollzog.