VON CLEMENS POKORNY | 26.09.2012 11:27

Auf der Walz

Unterwegs trifft man noch heute manchmal seltsam gekleidete Menschen: Handwerksgesellen in ihren Wanderjahren, „auf der Walz“. Was hat es mit diesem traditionellen Brauch auf sich?

Warum nennen wir einen listig-verschlagenen Menschen eigentlich ein „Schlitzohr“? Um zu verstehen, was sich hinter diesem Begriff verbirgt, müssen wir weit in die Geschichte zurückschauen und einen Brauch kennenlernen, der heute fast ausgestorben ist: die Wanderjahre, die „Walz“ der Handwerksgesellen.

Schon im Mittelalter fanden die Zimmermänner Arbeit vor allem auf den zahlreichen Baustellen von Kirchen. War das Bauprojekt beendet, zogen die Handwerker weiter zum nächsten in eine andere Stadt. Die Berufs- und Lebenserfahrung, die sie auf diesen Reisen sammelten, erkannten verschiedene Zünfte wohl als erheblichen Kompetenzzuwachs, den sie ab dem 15. Jahrhundert oftmals als verbindlichen Schritt der Gesellen nach Abschluss ihrer Lehrzeit in die Ausbildung des Nachwuchses integrierten.

Der europäische Qualifikationsrahmen

Genau drei Jahre und einen Tag mussten Zimmerer-, Metzger-, Schneider- oder auch Dachdeckergesellen durch die Lande ziehen. Auf ihrem Weg suchten die Wandergesellen, die sich selbst Fremde nannten, vorzugsweise größere Städte auf und baten bei den dort niedergelassenen Handwerksbetrieben ihrer Zunft um Arbeit. Nahm ein Meister sie auf, so mussten sie sich in der Regel mindestens für ein halbes Jahr bei ihm verdingen. Nach Ablauf der dortigen Lehrzeit zogen sie weiter. Nie durften sie während ihrer Walz einen Bannkreis von 50 Kilometern rund um ihren Heimatort betreten!

Nach ihren Wanderjahren absolvierten die Gesellen noch mehrere sogenannte Mutjahre bei einem Meister, bevor sie sich zum Meisterstück anmelden und sich schließlich nach bestandener Meisterprüfung mit einer eigenen Werkstätte niederlassen durften. Erst dann wurden sie Bürger dieser Stadt und konnten heiraten. Mit der beginnenden Industrialisierung, Arbeitsteilung und Spezialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts nahm die Bedeutung der Wanderjahre im Handwerk immer mehr ab, sodass sie für den Erwerb des Meisterbriefs irgendwann nicht mehr vorgeschrieben wurden.

Erst ab den 1980er-Jahren keimte das Traditionsbewusstsein wieder stärker auf. Doch weil viele der „Schächte“ genannten Wandergesellenvereinigungen sehr konservativ ausgerichtet waren und u.a. keine Frauen aufnahmen, gingen und gehen immer mehr JunghandwerkerInnen als „Freireisende“ auf die Walz.

Viele „Fremde“ sehen heute in ihren Wanderjahren ein großes Abenteuer, das sie aus ihrer Heimat heraus und in weite Teile der deutschsprachigen Länder führt – nur zu Fuß oder per Anhalter. Mancher Geselle berichtet sogar in Weblogs regelmäßig von seiner Walz. Nicht zuletzt die mit der „Tippelei“ verbundenen Traditionen ziehen wohl junge Menschen auf der Suche nach Orientierung im Leben an. Die „Fremden“ tragen die traditionelle „Kluft“, deren Farben die jeweilige Zunft und deren Perlmuttknöpfe die Anzahl der Arbeits- und Wanderzeit symbolisieren, ferner den „Stenz“ genannten Wanderstab sowie einen schwarzen Hut mit breiter Krempe. Ihr ganzes Hab und Gut tragen sie in einem „Charlottenburger“ genannten Tuch, früher auch in einem „Felleisen“, einem Lederranzen.

Im 19. Jahrhundert wurde insbesondere bei wandernden Bauarbeitern zudem das Tragen eines goldenen Ohrringes beliebt, der vor allem auch eine Geldreserve darstellte. Ließ sich der Geselle während seiner Wanderschaft etwas zuschulden kommen, wurde er aus seiner Zunft verstoßen und deren Erkennungszeichen, der Ohrring, wurde ihm buchstäblich ausgerissen – er wurde dadurch zum sprichwörtlichen „Schlitzohr“.