VON CLEMENS POKORNY | 01.07.2016 08:32

Anglizismen – Kolonialisierung der deutschen Sprache?

Wenn ein Staat ein ausländisches Gebiet von sich abhängig macht, nennt man das Kolonialisierung. Analog könnte man einer Kolonialisierung der deutschen Sprache durch die englische in Form der vielen Anglizismen sprechen. Von einigen Ausdrücken abgesehen lässt sich zeigen, dass wir kaum einen Anglizismus brauchen. Gleichwohl hat das Deutsche schon immer Einflüsse anderer Sprachen aufgenommen – und wird das auch weiterhin tun, ohne in seiner Existenz gefährdet zu sein.

In Games laufen Charaktere herum. Wir erledigen keine Aufgaben mehr oder haben Arbeit, sondern machen unseren Job. Und konservativen Schätzungen zufolge macht es Sinn, darauf zu wetten, dass nach Halbzeit 1 des Fußballmatches der Schule die Klasse 9 gegen die Klasse 12 schon mindestens 0-2 hinten liegen wird. Anglizismen, also aus dem Englischen ins Deutschen eingewanderte Ausdrücke, breiten sich erwiesenermaßen immer mehr aus. Oft aber sind sie nicht so leicht zu erkennen wie diejenigen in den ersten drei Sätzen dieses Textes, denn es handelt sich nicht nur um Fremd- oder Lehnwörter und wortwörtliche Übersetzungen.

Anglizismen kann man nach der sprachlichen Ebene unterscheiden, auf der sie stattfinden. Auf der Wortebene gibt es sechs verschiedene Typen: Erstens Wortentlehnungen, d.h. Übernahme eines englischen Wortes, das als Fremdwort der deutschen Grammatik und Schreibung angepasst wird, z.B. „Internet“, das im Genitiv ein „-s“ als Endung bekommt, oder „Keks“, das den englischen „cakes“ entlehnt wurde. Eine zweite Anglizismus-Art sind Lehnübersetzungen wie das zitierte „Sinn machen“ aus dem englischen „make sense“ zu nennen, das im Deutschen keinen Sinn ergibt, weil „machen“, anders als „tun“ und das englische „make“, im Sinne von „herstellen“ verwendet wird und man Sinn nicht herstellen kann. Drittens gibt es Lehnübertragungen, also nur teilweise wörtliche Übersetzungen wie z.B. „Untertreibung“ aus „Understatement“. Unter den Lehnbedeutungen – viertens – ragt das fürchterliche „realisieren“ im Sinne von „bemerken“ (to realize) heraus, während dieses Wort im Deutschen zuvor „in die Tat umsetzen“ oder „zu Geld machen“ bedeutete. Als Scheinentlehnungen oder Scheinanglizismen versteht man schließlich Neuprägungen wie „Handy“, die es so im Englischen gar nicht gibt: Das Mobiltelephon wird dort „mobile phone“ oder „cell phone“ genannt, während „handy“ nur „handlich“ bedeutet. Eine Kombination von deutschen und englischen Elementen in einem Wort wie „Millionendeal“ schließlich wird als Hybridbildung bezeichnet.

Sprache ohne funktionieren Grammatik auch?

Aber auch auf anderen Sprachebenen macht sich der Einfluss des Englischen auf die deutsche Sprache bemerkbar. Das -ed zur Markierung des Partizips II bei Wortentlehnungen wie z.B. „gedownloaded“ zum Anglizismus „downloaden“ steht als Form-Anglizismus neben phonetischen Phänomenen wie der Aussprache von „Club“ wie „Klupp“, weil deutsches „b“ im Wortauslaut zu „p“ verhärtet. Außerdem sind graphischen Angleichungen wie der berüchtigte Deppenapostroph in „Susi's Bar“ u.ä. zu beobachten, der dem englischen s-Genitiv nachempfunden ist, während der deutsche Apostroph nur zur Markierung des Ausfalls eines Vokals („Ich hab's vergessen“) oder des Genitivs nach s-Auslaut („Justus' Schuhe“, „Marx' [gesprochen: Marks] Werke“) dient. Reflexive Verben werden nach dem englischen Vorbild, wo viele Zeitwörter (Bsp.: to move) sowohl reflexiv („sich bewegen“) als auch transitiv („etwas bewegen“) gebraucht werden können, ohne „sich“ verwendet: „Ich erinnere das nicht“ statt „Ich erinnere mich nicht daran“. Seit einiger Zeit hört und liest man schließlich immer häufiger Sätze, deren Verbstellung dem englischen statt dem deutschen Satzbau folgt: „Kanzlerin Merkel zeigte sich erschüttert angesichts des Terroranschlags“ statt „... zeigte sich angesichts des Terroranschlags erschüttert“, manchmal durch „und zwar“ o.ä. kaschiert: „Die Minister haben sich getroffen und zwar in Berlin“ (Vorbild: „The ministers have met in Berlin“).

Was aber ist so schlimm daran, dass die Weltsprache Englisch aufgrund ihrer Verwendung auch seitens vieler deutscher Muttersprachler auf das Deutsche abfärbt? Sprache ist ein wesentlicher Teil unserer Kultur; sie spiegelt sie nicht nur, sondern prägt auch das Sprachgefühl insbesondere Heranwachsender, die ihre Mutter- oder Zweitsprache noch nicht in allen Feinheiten beherrschen. Wer mit Denglisch statt Deutsch aufwächst, wird sich später schwer tun, korrektes Hochdeutsch zu schreiben und zu sprechen, mit allen negativen Folgen u.a. auf dem Arbeitsmarkt.

Die Kultur wandelt sich und mit ihr die Sprache, könnte man einwenden. Aber wir brauchen nicht für jedes neue Ding ein englisches Lehnwort. Erstens lassen sich nämlich auch für Neues deutsche Wörter bilden, z.B. „herunterladen“ statt dem Anglizismus „downloaden“. Schon in der Vergangenheit wurden auf diese Weise unnötige Enlehnungen vermieden: Alleine der Schriftsteller Philipp von Zesen prägte im 17. Jahrhundert die Wörter „Abstand“ (für Distanz), „Bücherei“ (für Bibliothek oder Liberey), „Augenblick“ (für Moment), „Leidenschaft“ (für Passion), „Entwurf“ (für Projekt), „Anschrift“ (für Adresse), „Briefwechsel“ (für Korrespondenz), „Lustspiel“ (für Komödie), „Mundart“ (für Dialekt), „Rechtschreibung“ (für Orthographie), „Tagebuch“ (für Journal) oder auch „Verfasser“ (für Autor). Anders als andere seiner Neuschöpfungen haben sich diese Neologismen bekanntlich durchgesetzt. Und zweitens brauchen wir auch nicht für jeden neuen Gegenstand, Zusammenhang oder Gedanken in unserer Welt ein eigenes Wort. Der Germanist Thomas Niehr hat einmal im Rahmen seiner Kritik an der Anglizismus-Kritik gezeigt, dass es kein genaues deutsches Äquivalent zum englischen Wort und deutschen Anglizismus „Kids“ gibt („Kinder“ z.B. klingt einfach zu „uncool“). Kein Wunder: Schon innerhalb einer Sprache gibt es keine Synonyme, weil jedes bedeutungsähnliche Wort je andere Nuancen enthält – da wäre es überraschend, wenn ein Wort einer anderen Sprache eine exakte Entsprechung im Deutschen hätte! Wir können aber durch unsere Verwendung deutscher Wörter in je einem bestimmten Kontext Nuancen hervorheben, die das Wort alleine, also ohne diesen Zusammenhang, nicht hat. Augenfällig wird das am rhetorischen Stilmittel der distinctio (Unterscheidung): „Es gibt ja Leute, die betrachten nur politische Lieder als politisch“ (Georg Kreisler). Wer nun ohne weiteres auf den Anglizismus „die Kids“ verzichtet, verweigert sich zugleich einer „Kultur“, in der Kinder „cool“ sein sollen. Ist das etwa ein Übel?

Das Englische ist, wie das Deutsche, eine germanische Sprache und tendiert als solche zu Nomen und Nominalisierungen (Namenwörter und Umbildungen anderer Wörter zu Namenwörtern). Anders gesagt: Es hängt Dingen gerne „Namens-Etiketten“ um den Hals. Dementsprechend besitzt die Weltsprache Englisch auch die meisten Wörter aller Sprachen. Die romanischen Sprachen wie das Italienische oder das Französische dagegen sind von Verben geprägt: Wie ihre Mutter, das Latein, neigen sie dazu, Dinge, Vorgänge und Zustände z.B. mit Nebensätzen zu umschreiben statt, wie das Englische, mit einem einzigen Nomen zu beschreiben. Das mag umständlicher sein. Doch welcher der beiden folgenden Sätze mit gleicher Wörterzahl (!) klingt schöner: „Wegen starken Regens befand sich das Kind auf dem Schulweg in Begleitung seiner Mutter“ oder „Weil es stark regnete, begleitete die Mutter ihr Kind, als es zur Schule ging“? Die Antwort ist offensichtlich – und verweist darauf, dass wir für vieles, was wir ausdrücken wollen, gar keine Nomina brauchen (im Beispiel: der Regen, der Schulweg, die Begleitung) und uns trotzdem eleganter und nicht langatmiger artikulieren können.

Anglizismen sind, um es zusammenzufassen, meist nicht nötig, um sich zu verständigen. Sie dienen – wie Fremdwörter – allenfalls dazu, schick zu sein oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Jugendclique, Hipster- oder Banker-Milieu) zu markieren. Oft werden sie unbewusst gebraucht, oder aus übertriebener Rücksichtnahme auf Anderssprachige, weil die Deutschen im internationalen Vergleich eine ziemlich geringe Loyalität zur eigenen Sprache an den Tag legen. Inwieweit sich ein Anglizismus im Deutschen etabliert, hängt aber weniger von Gelehrten und Mitgliedern der schreibenden Zunft ab, sondern vielmehr von der deutschen Sprachgemeinschaft, die bislang noch immer sehr gut echtes Deutsch spricht. Das Gegenwartsdeutsche ist wie jede Sprache Moden unterworfen, die kommen und wieder gehen. Manche Anglizismen haben sich fest bei uns eingenistet, wie z.B. der „Computer“, genauso wie einige Germanismen in anderen Sprachen (englische Beispiele: „the kindergarten“ und „the schnaps“). Das Deutsche wird derzeit fraglos in vielen Fällen von der englischen Sprache erobert – doch es droht nicht, in einem Meer von Anglizismen unterzugehen.

Bild: "Für schlaue Kid's" von Pierre Willscheck via flickr.com. Von UNI.DE zugeschnitten und mit ©-Hinweis versehen.
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